Mythos Nothilfespender? Spendenverhalten nach einer Katastrophe (Fundraising professionell 1/2007)

2004 machten die Nothilfespenden 31 Prozent aller Spenden in Deutschland aus. 2003 waren es 37 Prozent und 2002 weißt der EMNID Spendenmonitor sogar über 50 Prozent aus. Im 5-Jahresschnitt waren es rund 35 Prozent, also etwas mehr als ein Drittel aller Spenden. Für einzelne Organisationen liegen die Zahlen wesentlich höher, teilweise über 90 Prozent. Unabhängig von der schnellen Katastrophenhilfe stellt sich immer wieder die Frage ob und wie man diese Spender für die eigene Organisation begeistern und sie zu regelmäßigen Unterstützern machen kann. Um Enttäuschungen vorzubeugen: Patentlösungen dafür wird und kann es nicht geben. Trotzdem lohnt es sich einen genauen Blick auf das Thema zu werfen.

Wenn man von Nothilfespendern spricht, muss man zuerst fragen welche Nothilfespender genau gemeint sind. Genauso wenig wie es den Spender an sich gibt, gibt es den Nothilfe­spender. Was es gibt, sind unterschiedliche Typen von Nothilfespendern, z. B. die solidaritätsorientierten Inlandsspender, den effizienzorientierten Spender oder den Mitleids­spender bei Naturkatastrophen. Der amerikanische Fundraisingexperte Mal Warwick hat den Satz geprägt: „Es ist fast nicht möglich zuviel Zeit auf die Adressaten [einer Aktion] zu verwenden.“

Der Spender steht im Mittelpunkt des Fundraising. Er ist es für den Fundraiser arbeiten und auf den sich Konzeption, Gestaltung und Thematik unserer Aktionen ausrichten. Dazu gehört in erster Linie, sich ein fundiertes Bild seiner Spender zu machen. Stimmt dieses Bild nicht, startet das Fundraising an einem falschen Ausgangspunkt. Das ist vergleichbar mit einer Wanderung. Alles ist perfekt organisiert. Es gibt eine gute Wegbeschreibung, eine perfekte Karte, gutes Wetter und alles was es sonst noch braucht. Nur leider startet die Wanderung nicht wie gedacht in A-Dorf, sondern die Wanderer sind irgendwie nach B-Dorf geraten und gehen von dort aus los. Es ist leicht vorstellbar was passieren wird. Die Wanderer werden sich völlig verlaufen und nur mit Mühe zum Ausgangspunkt zurückfinden. Im Fundraising ist es genauso. Alles kann perfekt organisiert sein, eine Top-Konzeption gekonnt umgesetzt – nur, wenn dabei von einem falschen Spenderbild ausgegangen wird, wird die Aktion sehr wahrscheinlich ein Misserfolg werden.

Was allgemein für die Spender gilt, gilt insbesondere auch für die Neuspender aus einer Nothilfesituation. Entsprechend gibt es auch keine pauschalen Aussagen á la „Katastrophen­spender lassen sich nicht binden“ oder „Nothilfespender schreiben wir grundsätzlich nur bei Nothilfe-Situationen an“. Hier lohnt es sich genauer hinzuschauen und die Nothilfespender zu segmentieren, d. h. in verschiedene Gruppen einzuteilen.

Die einfachste Art der Segmentation ist nach regionalen Gesichtspunkten, d. h. wo hat die Katastrophe stattgefunden? Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Unterscheidung zwischen In- und Ausland, weil sich dahinter verschiedene Spendermotivationen verbergen. Liegt die Nothilfesituation im Ausland, so ist die Frage in welcher Region, bzw. auf welchem Kontinent sie sich ereignet hat, oft nicht mehr so wichtig. Zentral für die Spender ist die unmittelbare Notsituation in die Mitmenschen unverschuldet geraten sind. Dies ist der Anlass für die Spende. Die Region spielt sicher auch eine Rolle, das wird von der Grundmotivation aber zumeist überlagert. Deswegen lohnt es sich in vielen Fällen nicht, die Nothilfespender konkret für Projekte in derselben Region um Hilfe zu bitten, also z. B. Tsunami-Spender für Projekte in Süd-Ostasien. Die allermeisten Spender hätten auch geholfen, wenn der Tsunami sich in der Karibik oder vor der afrikanischen Atlantikküste ereignet hätte. Vielsprechender kann es sein von der Grundmotivation auszugehen und Projektbeispiele zu bewerben, die unverschuldete unmittelbare Not lindern. Dabei spielt es übrigens keine Rolle, ob die Not tatsächlich unverschuldet ist, oder nicht. Entscheidend ist die Wahrnehmung und die Wertung der Spender – ein Grund warum die Spenderbereitschaft bei Naturkatastrophen höher ist als bei Hunger­katastrophen mit ihren oft vielfältigen sozioökonomischen Ursachen. Noch augenfälliger ist dies bei Kriegsopfern, denen als Angehörige einer Kriegspartei unbewußt eine Mitschuld gegeben wird, obwohl zumindest die Zivilbevölkerung in der Regel objektiv schuldlose Opfer sind. Trotzdem ist die Spendenbereitschaft in vielen Fällen geringer.

Damit ist zugleich eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit angesprochen worden, die nach der Art der Nothilfe. Eine weitere und vielleicht die wichtigste Unterscheidung ist die nach der „Herkunft“ des Nothilfespenders, konkret über welches Medium, welchen Kommunikationskanal der Spender zu Ihnen gekommen ist. Für die Spenderbindung und die weitere Ansprache macht es einen erheblichen Unterschied ob der Spender auf einen Presseaufruf, aufgrund einer Veranstaltung oder wegen eines Mailings spendet. Mehr noch als bei anderen Segmentationen führt diese zu erstaunlichen Ergebnissen, wenn man die Spendeneinnahmen und Bindungsquoten genauer analysiert. Oft stellen wir fest, dass die Spender aus Presseaufrufen sich wenig für weitere Spenden begeistern lassen. Neuspender aus Nothilfemailings hingegen haben vergleichbare Bindungsquoten wie Neuspender aus „normalen“ Fremdadressmailings. Die Differenz ist erheblich und liegt teilweise im zweistelligen Prozentbereich. Hier nähern wir uns der Antwort auf die Frage, warum das Pauschalurteil „Nothilfespender lassen sich nicht binden.“ so nicht richtig ist. Entscheidend ist gar nicht, ob der Spender durch eine Nothilfe­spende zu einer Organisation gekommen ist oder nicht. Entscheidend ist zunächst die Frage durch welches Medium, durch welches Kommunikationsmittel. Die Spenderbindung wird nicht nur durch die spezielle Motivation oder Grundhaltung der Nothilfespender erschwert, sondern durch den Medienwechsel. Wer affin zum Medium „Mailing“ ist, bei dem bestehen gute Chancen weitere Mailingspenden zu bekommen. Wer aufgrund eines Zeitungsartikels, Radio- oder Fernsehberichts spendet, ist meist nicht affin zu Mailings. Entsprechend schlecht sind die Chancen einen solchen Spender zu binden, bzw. entsprechend höher ist der Aufwand dies zu tun. Richtiger wäre also die Aussage: Neuspender aus Presseaufrufen sind mit Mailings schwer zu binden. Da aber in der Regel die Spender aus Presseaufrufen den Großteil der Nothilfespender ausmachen, entsteht der Eindruck die Nothilfespender allgemein ließen sich nicht binden.

Es gibt natürlich noch viele weitere Segmentationsmöglichkeiten z. B. nach Beträgen, Zahlungswegen, zeitlichem Abstand zur Katastrophe, Wohnumfeld usw. In der Praxis führt oft erst die Kombination verschiedener Merkmale zu einer optimalen Segmentierung. Eine ausführliche Darstellung würde allerdings den Rahmen dieses Artikels überschreiten.

Erster Rückschluss daraus ist, die Spender aus Katastrophenmailings so schnell wie möglich in Ihren Mailingzyklus zu integrieren. Bei den Spendern aus anderen Medien sind mehr Vorüberlegungen nötig. Außer bei den Internetspendern ist ein Medienwechsel notwendig, d. h. die Spender werden auf einem anderen Kommunikationskanal angesprochen, als dem, den sie selbst gewählt haben. Da zumeist keine E-Mail-Adressen zu recherchieren sind, bleiben nur die Brief­mailings. Adressen lassen sich auf verschiedenen Wegen (re-)konstruieren, entweder über Adressdienstleister oder über Rücküberweisungen und Bankanfragen. Danach muss genau überlegt und kalkuliert werden, welches Mailing zur Bindung geeignet ist. Meiner Erfahrung nach sind höherwertigere, also teurere Mailings in der Endabrechnung trotzdem oft besser. Dies gilt aber sich nicht bei jeder Organisation und erst recht nicht für jede Zielgruppe.

Bei der Bewertung von Bindungsquoten und Aktivierungsmaßnahmen rechnet es sich in der Regel nicht zu kurzfristig oder zu stringent vorzugehen. Für Zeitschriftenanzeigen gibt es Wirkungsanalysen, die aufzeigen, dass eine Anzeige im Schnitt siebenmal gesehen wird, bevor eine Reaktion darauf erfolgt. Bei Mailings wird die Zahl sicher nicht so hoch sein, trotzdem kann man nicht erwarten, dass bereits auf das erste oder zweite Mailing eine Reaktion erfolgt. Bei einem Teil der Spender wird das sicher gelingen, oft lohnt es sich aber Geduld zu haben und es auf fünf oder mehr Versuche ankommen zu lassen. Dies kann man auch zeitlich verteilen, allerdings nicht zu lang, da sonst die Adressqualität durch Umzüge und Sterbefälle zu sehr abnimmt. In diesem Zusammenhang ist es oft kontraproduktiv zu sehr auf den kurzfristigen Return on Invest (RoI) zu achten, bzw. an diesen zu strenge Maßstäbe anzulegen. Langfristig rechnet es sich oft hier etwas mehr zu investieren um den Spenderbestand zu vergrößern. Ob das bei Ihrer Organisation und bei Ihren Kostenstrukturen der Fall ist lässt sich nur durch eine Analyse der vergangenen Jahre herausfinden. In einer solchen Analyse müssten Bindungsquoten, Folgespender, Investitionen und Armortisationen für verschiedene Zielgruppen und Spendersegmente gegenübergestellt und bewertet werden. Das Ergebnis gibt Aufschlussdarüber, wie viel in einen neuen Spender investiert werden darf und in welchem Zeitraum sich das für die Organisation rechnet. Vor einem muss dabei aber gewarnt werden: Controlling sollte nicht mit Kostenreduktion verwechselt werden. Beim Controlling geht es um den möglichst effizienten Einsatz von Geld. Das kann und wird oft auch bedeuten mehr Geld auszugeben, um in Zukunft höhere Einnahmen zu erzielen.

Wenn wir das Spendenverhalten nach einer Katastrophe untersuchen, so geht es dabei nicht nur um die Spenderbindung, sondern auch um die Frage, welchen Einfluss die Katastrophen­spenden auf Ihre Folgeaktionen haben. Dazu ein Beispiel: bei einer deutschen Hilfs­organiation blieb das Weihnachstmailing hinter der Erwartung zurück. Anfang des Jahres hatte es eine Nothilfe­situation mit sehr vielen Spendern gegeben. Es wurde daher ein Abschöpfungseffekt vermutet, da viele die nur einmal pro Jahr spenden dies üblicher­weise zu Weihnachten machen. Die Überlegung war einfach: Diesmal hatte ein Teil der Spender aber schon im Frühjahr gegeben und daher blieb die Spende auf das Weihnachtsmailing aus.

Dies kann durch eine Analyse untersucht werden. Die Auswertung ist nicht weiter kompliziert. Man teilt die Aussendmenge des Weihnachtsmailings in zwei Gruppen: die Nothilfespender und die Nicht-Nothilfespender. Gibt es einen Abschöpfungseffekt, so müsste die Responsequote der Nicht-Nothilfespender höher sein, als die der Nothilfespender. Dies war nicht der Fall. Um Fehlinterpretationen vorzubeugen sollte noch die Recency (ohne die Nothilfespende) in beiden Gruppen kontrolliert werden. Schließlich kann man, wenn man besonders sorgfältig sein will, noch die Spender raussuchen, die in den letzten drei Jahren nur jeweils zu Weihnachten gespendet haben und führt die Auswertung mit dieser Gruppe noch einmal durch. In unserem Beispiel ergab sich jedes Mal der klare Nachweis: „Es gibt keinen Abschöpfungs­effekt“. Einzig: Diese Erkenntnis setzte sich nicht mehr durch. Die These vom Abschöpfungs­effekt war inzwischen in der Organisation etabliert. Daran konnten auch Fakten nichts mehr ändern. Scheinbar gut für die Fundraisingabteilung, konnte sie doch nicht für das schlechte Ergebnis verantwortlich gemacht werden. Aber auch nur scheinbar gut. Verhinderte es doch eine genauere Analyse der wirklichen Ursachen. Damit war die Chance vertan aus Fehlern zu lernen. Aber nicht nur in diesem Beispiel, auch insgesamt zeigt sich oft, dass Ab­schöp­fungs­effekte überschätzt werden. Zum einen, weil ein Großteil der Nothilfespender nicht affin zu Mailings ist, zum anderen weil viele der regelmäßigen Spender ihre Nothilfespende als Extra-Spende betrachten, wenn die Katastrophensituation nicht in die Haupt­spendenzeit zu Weihnachten fällt. Im Grunde nur ein Beispiel dafür wie (zu) schnell gefasste Urteile eine Weiterentwicklung behindern. Es lohnt sich (fast) immer genauer hinzuschauen.

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